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300 Jahre St. Anna Schwerin - was Dokumente berichten

(5) Aus dem Tagebuch des Rektors Wilhelm Sander (1865-1890)

Abb. 1 Tagebuch von Wilhelm Sander aus den Jahren 1865 bis 1890 (TBSander-Buch)
Abb. 2 Erste Seite aus dem Tagebuch von Wilhelm Sander (TBSander-01)
Abb. 3 Urkunde über die Aufnahme des Schweriner Gesellenvereins in den Verband der katholischen Gesellenvereine (GesV-001-Aufnahme.1873)
Abb. 4 Johannes Heinrich Beckmann, Apostolischer Provikar und Bischof von Osnabrück (1866-78)
Abb. 5 Bernhard Höting, Apostolischer Provikar und Bischof von Osnabrück (1882-98)
Abb. 6 Seite 18 aus dem Tagebuch von Wilhelm Sander (TB-Sander-18)

Wo kann man etwas über die ersten katholischen Vereine in Schwerin erfahren? Wer weiß, wann der Bischof aus Osnabrück zum ersten Mal hierher kam? Wieviel Einwohner Mecklenburgs waren vor 150 Jahren katholisch? Wie stand es um die Pläne der Gemeinde für einen Kirchenneubau? Welche Entwicklung nahm die katholische Schule?

Kaum jemand hat das Gemeindeleben in der Schweriner Pfarrei St. Anna so umfassend und genau aufgezeichnet, wie Wilhelm Sander.  Er wurde 1830 in Hamburg geboren. Von 1846-1850 studierte er an der Gelehrtenschule des Johanneums und erwarb die Berechtigung, Volks- und Mittelschulen zu leiten. Mit 20 Jahren konvertierte er zur katholischen Kirche und wurde zunächst Lehrer in Lübeck. 1855 kam er dann nach Schwerin, wo er über 45 Jahre als Lehrer und späterer Rektor der hiesigen katholischen Schule wirkte.
Wilhelm Sander war zunächst auch Küster und Organist. In der Gemeinde spielte er bald eine führende Rolle. Seit 1885 trug er den Titel „Rektor“. Zwei seiner Söhne wurden Priester und feierten ihre Primiz in Schwerin. Rektor Sander schied erst im  70. Lebensjahr aus dem Schuldienst aus, nahm aber noch weitere 11 Jahre an den Lehrerkonferenzen der katholischen Schulen in Mecklenburg und Schleswig-Holstein teil.

Das Tagebuch von Wilhelm Sander beginnt Weihnachten 1865 mit einem Rückblick:
„Am 24. Dezember 1865 schenkte ein Verein von Damen einen von ihnen gestickten Fußteppich für den Muttergottesaltar. Dieser Verein hat sich zur Aufgabe gestellt, die Kirchenwäsche und Paramente in Stand zu halten und sie - soweit es seine Mittel erlauben - neu anzuschaffen.
Außerdem besteht seit 1851 in unserer Gemeinde
2. ein Vincenzverein von 30 Mitgliedern, der alle Montage im Lokal
    der Knabenschule seine Sitzungen hält.
3. Eine Herzmarienbruderschaft
4. Eine Rosenkranzbruderschaft von zweimal 15 Mitgliedern
5. Ein Missionsverein (Kindheit-Jesu-Verein)
6. Ein Verein von Damen, um junge Mädchen im Weißnähen, Zuschneiden, Waschen und Plätten zu unterrichten und dieselben, wenn irgend möglich bei katholischen Herrschaften in Dienst unterzubringen.
7. Eine Gemeindebibliothek von ca. 200 Bänden, unterhalten durch monatliche Beiträge einiger Mitglieder unserer Gemeinde.“

Man sieht an dieser Aufzählung, welch reges Gemeindeleben sich bereits vor über 150 Jahren in Schwerin entfaltet hatte. Vorsitzender oder geistlicher Leiter dieser Vereine und Bruderschaften war damals üblicherweise der Ortspfarrer. So blieb es auch bei den folgenden Gründungen, unter denen als erstes der Gesellenverein zu nennen ist. Während das Gründungsdatum - der 6. Januar 1873 – mit nur einer knappen Zeile erwähnt wird, beschreibt das Tagebuch in den nächsten Jahren recht ausführlich die vielen Aktivitäten der Schweriner Kolpingbrüder. Vor allem das jährliche Stiftungsfest wurde unter Anteilnahme der ganzen Gemeinde groß gefeiert. Schon 1874, als der Gesellenverein erst 14 Mitglieder hatte, mietete man zu diesem Zweck den „Karstorfschen Saal auf dem Goßen. Moor, der „geschmackvoll […] decoriert“ wurde.  Die 200 Gäste nahmen die „ humoristischen Vorträge von Gesellen […] mit fast enthusiastischem Beifall“ auf. Das Tagebuch fährt fort: „Hernach wurde, und zwar bis Morgens  2 ½ Uhr getanzt. Es herrschte die ungezwungenste Heiterkeit [...].“

Im gleichen Jahr wie der Gesellenverein wurde in Schwerin auch der Bonifatiusverein gegründet. 1875 berichtet Wilhelm Sander über die Mitgestaltung des Ostergottesdienstes durch den gerade gegründeten Schweriner Gesangsverein. Im Jahr darauf erwähnt er die Gründung eines Borromäusvereines.

Die Blüte der katholischen Vereine war in dieser Zeit deutschlandweit zu beobachten. Zwar entwickelte sich das Vereinswesens damals ganz allgemein, doch führten die gegen die römisch-katholische Kirche gerichteten Maßnahmen der Reiches zu einem besonders engen Zusammenhalt im kirchlichen Lager. Anzeichen für diese Situation finden sich auch im Tagebuch Wilhelm Sanders wieder.

Im September 1870  berichtet er über Gottesdienste für französische Kriegsgefangene  auf der Insel Kaninchenwerder, 1871 über die Errichtung eines Denkmal für die in Schwerin verstorbenen französischen Soldaten auf dem katholischen Friedhof. Der nach der deutschen Reichsgründung bald einsetzende Kulturkampf, in dem Bismarck die katholische Kirche im Reich von Rom lösen und unter staatliche Aufsicht stellen wollte, findet keinen direkten Widerhall im Tagebuch, ist aber zwischen den Zeilen zu spüren. Mit den zitierten katholischen Vereinsgründungen machten die Laien auf der einen Seite ihre gesellschaftliche Präsenz, auf der anderen Seite aber ihre unverrückbare Treue zur römisch-katholischen Kirche deutlich.

Besondere Bedeutung hatten in dieser Hinsicht auch die Bischofsbesuche in der Diaspora. Als 1868 der Apostolische Provikar der norddeutschen Missionen, Bischof Johannes Heinrich Beckmann aus Osnabrück, zu seinem ersten Besuch nach Schwerin kam, widmete Sander diesem Ereignis nur eine knappe Zeile in seinem Tagebuch. 5 Jahre später – also nach Reichsgründung und Verabschiedung der Kulturkampfgesetze - kam der Bischof ein zweites Mal - und jetzt schrieb der Schweriner Schulleiter eine ganze Seite ins Tagebuch.  Im Mittelpunkt des Eintrags steht die Hoffnung des Ortspfarrers, durch den Besuch des Oberhirten möge unter den Gemeindegliedern das „Bewusstsein der Zugehörigkeit zu dem großen ganzen unserer heiligen Kirche […] wieder lebendig werden“. Auch der bischöfliche Zuspruch, dass er im zahlreichen Erscheinen der Gemeinde „den Beweis einer guten katholischen Gesinnung erblicke“, und ebenso die anschließende „Aufwartung“ des geistlichen Herrn bei Großherzog und Landesregierung wurden notiert.

Ausführlich berichtet Sander in den Jahren darauf über die Einführung von „Civilstandsregister u. Standesämter nebst obligater Civilehe“, die per Reichsgesetz 1876 erfolgte. Im Wortlaut zitiert er die Ausführungsbestimmungen, die Großherzog Friedrich Franz II. im gleichen Jahr erließ und die einen Ausgleich für wegfallende Einnahmen der Geistlichen vorsahen. Vom 16. Juni 1876 findet sich im Tagebuch eine ausführliche Notiz über die große Feier, mit der die katholische Vereine „denen sich viele andere Gemeindemitglieder angeschlossen hatten, den 30. Jahrestag der Erwählung unseres Hl. Vaters Pius IX..“ begingen.

Erst 1884 kam wieder ein Osnabrücker Bischof nach Schwerin. Inzwischen waren die Konflikte zwischen Reich und Kirche zum größten Teil beigelegt. Der neue Apostolische Provikar Dr. Bernhard Höting besuchte jetzt alle Missionsstationen in Mecklenburg-Schwerin. Er war aus Osnabrück zunächst nach Ludwigslust gereist und traf am Abend des 21. Oktober 1884 mit dem Zug in Schwerin ein   Sander schreibt, dass sich die Schweriner „Geistlichen und Kirchenvorsteher und andere Gemeindemitglieder zur Begrüßung am Bahnhof eingefunden“ hätten. Am Morgen des nächsten Tages wurde „der Oberhirte über den mit Lorbeerbäumen gezierten Schulhof zur Kirche geleitet und dort nach römischem Ritus eingeführt und empfangen“. Der folgende Bericht nimmt vier Tagebuchseiten ein und umfasst alle Visitationspunkte des Bischofs in Pfarrei, Schule und Vereinen. Natürlich durfte ein Staatsbesuch bei der Großherzoglichen Regierung nicht fehlen. Erst am 23. Oktober „erfolgte die Weiterreise des Kirchenfürsten über Wismar, wo zur Besichtigung des Missionshauses ein kurzer Aufenthalt genommen wurde, nach Rostock.“ Am Ende des Berichtes zählt Sander dann insgesamt sieben vorhergehende Reisen Osnabrücker Bischöfe  auf, die in den letzten 40 Jahren nach Mecklenburg führten.

Inzwischen war ein stetiges Anwachsen der katholischen Bevölkerung im Lande zu verzeichnen, was im Tagebuch von Wilhelm Sander gut dokumentiert ist. So übernahm er ganze Tabellen aus den Statistischen Erhebungen der Großherzoglichen Regierung, in denen die Zahl der Katholiken in einzelnen Gemeinden des Landes aufgeführt wird. 1875 gab es im  Land 2.258 Katholiken, wovon zwei Drittel Männer und nur ein Drittel Frauen waren. Mehr als ein Viertel der katholischen Bevölkerung wohnte in Schwerin. – und nur hier waren es zu gleichen Teilen Männer und Frauen. Zehn Jahre später hatte sich die Zahl der Katholiken im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin fast verdoppelt, wobei das zahlenmäßige Ãœbergewicht an Männern erhalten blieb. Grund dafür waren die vielen polnischen Saisonarbeiter, die als sogenannte „Schnitter“ auf den großen Gütern arbeiteten. Deutschland wurde damals durch zunehmend betriebenen Anbau von Zuckerrüben zum weltweit führende Zuckerexportland. Bis zur Jahrhundertwende erhöhte sich die Zahl der überwiegend katholischen Landarbeiter enorm. 1885 lebten in der Stadt Schwerin insgesamt 718 katholische Bürger, 1899 rechneten zur Gemeinde bereits 2.750 Gläubige.

Im Leben eines Lehrers nimmt natürlich die Schule den wichtigsten Platz ein. So dokumentiert Rektor Sander in seinem Tagebuch auch viele Höhepunkte aus der Entwicklung der katholischen Schule in Schwerin. Zu Michaelis 1871 schreibt er: „Die höhere Bürgerschule ins Leben getreten nach viel Programm“. Zwei Jahre später folgt ein Vermerk über die „staatliche Prüfung unserer Schulen durch den Cultusminister Staatsrath Buchka.“ Stolz notiert Sander, dass sich „die Herren über die Leistungen sehr günstig“ äußerten. Alle Personalwechsel auf den Lehrerstellen, die Anschaffung einer Mineraliensammlung, die Gründung der schon genannten Lehrerkonferenz, ja selbst sein eigenes 25jähriges Amtsjubiläum als Lehrer an der katholischen Schule in Schwerin nimmt Sander in das Tagebuch auf.

Dokumentiert werden auch die intensiven Bemühungen der Schweriner Gemeinde, das Kapital für einen Kirchenneubau zusammenzutragen. Spätestens seit 1837 war bekannt, dass die St. Annenkirche auseinander zu brechen drohte, wenn nicht geeignete Sanierungsmaßnahmen erfolgten. Ein Kirchenneubau schien unausweichlich.

Die letzte Notiz des Tagebuches stammt vom 12. September 1890. Dort berichtet Rektor Sander über einen vorhandenen Baufond der Gemeinde in Höhe von über 16.000 Mark. Einige Jahre später wurde dann das alte Schulgebäude baupolizeilich gesperrt. So musste das Geld, das eigentlich für eine neue Kirche Verwendung finden sollte, für den Bau einer neuen Schule eingesetzt werden. Diese wurde 1905, also 5 Jahre nach dem Ausscheiden Wilhelm Sanders aus dem Schuldienst, eingeweiht. Heute wird dieser dritte katholische Schulbau in Schwerin als Gemeindehaus der Propstei St. Anna genutzt. Das Gebäude ist als „Bernhard-Schräder-Haus“ weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.