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Heinrich-Theissing-Institut Schwerin  >  Publikationen  >  Artikel  >  Was Dokumente berichten  >  Artikelserie zum Gedenken an Dr.Bernhard Schräder (7)

(2.) Pfarrer, Bischöflicher Kommissar und Generalvikar

Abb. 01: Pfarrer Dr. Bernhard Schräder in den Nachkriegsjahren

Sechs Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges erreichte die Westfront Schwerin. Am 2. Mai 1945  begann Pfarrer Dr. Schräder sein Nachkriegs-Tagebuch: „Spannung seit 14 Tagen: Russe oder Amerikaner? Front rückt näher, von beiden Seiten [...] Eintragungen im Kirchenbuch mit fast zitternder Hand, plötzlich [...] Panzergerassel [...] Ans Fenster: Panzer! Sind es Amis? Jubelrufe! Gott sei Dank, nicht I. [= Erstere, d.h. Russen]. Forscher und kriegerischer Major: Für mich ist der Dienst noch nicht zu Ende. Mit Pistole gegen Panzer, tot. 2 Hitlerjungen mit MP[i], Friseur faßt sie am Kragen. Leute neugierig zugeschaut, keine weißen Fahnen, nur ein paar Parteibonzen schwenken am Marienplatz Bettlaken […]“.

Über mehrere Monate hinweg dokumentierte der Schweriner Pfarrer das Nachkriegsgeschehen im Westen Mecklenburgs. Gleich am nächsten Tag erreichte der Todesmarsch der KZ-Häftlinge die Stadt: „Letztes Geschenk der Nazis an Schwerin, 13.000 Häftlinge aus Sachsenhausen-Brandenburg (KZ) [...] halb verhungert,“ notierte Schräder. Er selbst nahm zunächst sechs, wenig später dann drei weitere „KZ-Leute“ im Pfarrhaus auf. Das Gebäude der von den Nazis geschlossenen katholischen Schule wurde zum überfüllten Flüchtlingsquartier. Schräders Tagebuch berichtet von langen Warteschlangen vor den Bäcker- und Fleischerläden, über die „schrecklichen Bilder nackter Leichen im Krematorium“, über die „Beerdigung von 174 Ausländern aus dem KZ Wöbbelin auf dem Spielplatz Voß-, Sandstraße, Herzogring“.

Die Bevölkerung hatte große Angst vor einem möglichen Einmarsch der Russen. Die Grenze zwischen den Besatzungszonen bildete ein schmaler Wasserlauf südöstlich der Stadt Schwerin. Der Pfarrer schrieb dazu: „Flüchtlinge aus Rabensteinfeld [...] durch die Stör geschwommen, berichten von der Zerstörungswut und den Greueln russischer Soldaten.“

Statt der Russen kamen erst die Engländer. Nach Gesprächen mit Vertretern der englischen Militärregierung notierte Schräder: „Aufgabe der Kirche: einen neuen Geist in Deutschland schaffen.“ Am 24. Mai schrieb er über die Lage in Schwerin, damals eine Stadt, die aus den Nähten zu platzen drohte: „Schwerin hat jetzt 32 Lazarette. Gestern Italienermesse, Krügerkaserne Ludwigsluster Chaussee, sicher 2000 Mann [...] Die Ansässigen verschwinden unter den Flüchtlingen. Gewaltiges Gedränge in der Kirche.“

Die Notizen Schräders am 1. Juli 1945 beginnen harmlos: „ Ruhige Nacht. Morgens Abzug der Engländer, gleichzeitig Einzug der Russen z.T. mit Schreien, - vormittags wiederholt eintöniger Gesang.“ Am 2. Juli schrieb er über „viele Gewalttaten gegen Frauen und Eigentum, meist von Ostarbeitern“ und bescheinigte dem russischen Kommandanten „guten Willen [...] Ruhe und Ordnung wiederherzustellen“.

Die folgenden Tagebuchnotizen Schräders beschreiben den Umbruch, der jetzt das gesellschaftliche Leben erfasste. Aufmerksam registrierte er den Umzug der „schon vorher in Güstrow gebildeten Regierung unter Höcker, Warncke, usw.“ nach Schwerin; die schnell wieder rückgängig gemachten Pfarrhausbesetzungen und Kirchenbeschlagnahmen durch die Besatzer, die erneute Flucht vieler Flüchtlingsfamilien vom Lande in die Stadt, „da Frauen und Mädchen vielfach vergewaltigt wurden.“ Am 7. Juli berichtete Schräder über den ersten „Treck [der] von den Polen ausgewiesener Schlesier“, die in die überfüllte Stadt kommen; später dann über „epidemisches Kindersterben“ bei den „verbliebenen Flüchtlingen“, das dem Mangel an Medikamenten geschuldet ist.

Durch die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die in den Jahren nach dem Krieg nach Mecklenburg kamen, stieg hier die Zahl der Katholiken bereits 1946 auf über 200.000 – also auf das Vierfache des Vorkriegswertes an. Von heute auf morgen musste die seelsorgliche Betreuung dieser entwurzelten Menschen, die ihre alte Heimat verloren hatten und oft unter den Traumata von Flucht und Vertreibung litten, von den wenigen Geistlichen im Lande übernommen werden. Dazu kam die Sorge um Linderung akuter materieller Not und die Notwendigkeit einer Integration in das Gemeindeleben vor Ort.

Bischöflicher Kommissar seit 1946
Bild Bischöflicher Kommissar seit 1946

In einem Brief an den Osnabrücker Bischof Dr. Wilhelm Berning schilderte Pfarrer Dr. Schräder den Mangel an Seelsorgern, geistlichen Gerätschaften und Gottesdiensträumen und bat um Hilfe. Der Bischof, der selbst keine Einreise in die sowjetische Besatzungszone erhielt, übertrug  Schräder zunächst einige Vollmachten für den westlichen Konferenzbezirk Mecklenburgs, die aber keine Lösung der geschilderten Probleme brachten. Erst weitere dringliche Anfragen des Schweriner Pfarrers nach einer „autorisierten Persönlichkeit“ für die Kirche für Mecklenburg“ bewegten den Bischof dazu, Schräder selbst mit Erlass vom 8. April 1946 zum Bischöflichen Kommissar für das damalige Dekanat Mecklenburg zu ernennen.

Doch war der Bischof nicht bereit, die für dieses Amt notwendigen Vollmachten auf Schräder zu übertragen, so dass neuernannte Kommissar deswegen bald seinen Rücktritt anbot. Der promovierte Volkswirt Bernhard Schräder hatte sehr wohl konkrete Vorstellungen von einer effektiven Leitung kirchlicher Strukturen, die über den Tellerrand einer Pfarrei hinausreichten. Bischof und Generalvikar saßen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Die um ein vielfaches gewachsene Katholikenzahl verlangte einen grundlegenden Neuaufbau der Kirche im Lande. Kommissarische Beauftragung hieß für Schräder, dass er sowohl selbständig in Personalfragen entscheiden als auch über die notwendigen Finanzen verfügen musste. Es dauerte mehrere Jahre, bis der Osnabrücker Bischof in diesen strittigen Fragen endlich nachgab. Im November 1950 übertrug er seinem in Schwerin wohnenden Kommissar alle Rechte eines Generalvikars.

Bei allem Bemühen, eine einheitliche Leitung für die katholische Kirche in Mecklenburg zu erreichen, ging es Schräder nie um Amt und Einfluss, sondern immer um die ihm anvertrauten Gläubigen. Dabei wusste er wohl zwischen seinen Aufgaben als Leiter der größten Gemeinde in Mecklenburg und seiner Zuständigkeit für die ganze Kirche in Mecklenburg zu unterscheiden. Die seelsorgliche und caritative Betreuung der fast 15.000 Katholiken, die jetzt zur Schweriner Pfarrei St. Anna gehörten, war allein schon eine unerhörte Herausforderung. Mehr als dreißig Außenstationen gehörten zum Pfarrgebiet. Die katholische Schule in Schwerin blieb auf Weisung der Besatzungsmacht geschlossen, doch gelang es Schräder, den katholischen Kindergarten im Jahre 1947 wieder zu eröffnen. Mehrere Versuche, eine neue Kirche für die mehr als zweitausend sonntäglichen Gottesdienstbesucher in Schwerin zu bauen, scheiterten an der Willkür der Behörden.


Alles wartet auf den Bischof! - Schweriner Klosterstraße 1947
Bild Alles wartet auf den Bischof! - Schweriner Klosterstraße 1947

Parallel zu seinem Bemühen um soziale Fürsorge in der Schweriner Pfarrei hatte Schräder sich für den Aufbau landesweiter Caritasarbeit eingesetzt. Dabei war ihm sehr an ökumenischer Zusammenarbeit mit der Inneren Mission der evangelisch-lutherischen Landeskirche gelegen. Unter seiner Leitung wurde das Bischöfliche Kommissariat Schwerin als zentrale kirchliche Behörde in Mecklenburg aufgebaut. Die Ausbildung aller Katechetinnen und Seelsorghelferinnen im Lande sowie auch der ehrenamtlichen Caritashelfer lag zwar in den Händen seiner nächsten Mitarbeiter, letztendlich aber auch in seiner Verantwortung.  Neuere Forschungen belegen, dass der Bischöfliche Kommissar Dr. Schräder in dieser Zeit auch in der Berliner Ordinarienkonferenz eine nicht unbeachtliche Rolle spielte.

An vielen Orten in Mecklenburg kam es zur Gründung neuer Gemeinden. In den Jahren 1945 bis 1950 wurden im Gebiet des neuen Bischöflichen Kommissariates 34 neue Seelsorgebezirke errichtet.  Zunächst hatten vielerorts die Evangelischen Gemeinden ihre Kirchen für den katholischen Gottesdienst zur Verfügung gestellt. Später wurden „Notkirchen“  - zum Teil in ehemaligen Baracken des Reichsarbeitsdienstes - eingerichtet, die man dann auch als „Barackenkirchen“ bezeichnete. In seiner Zeit als Bischöflicher Kommissar und späterer Weihbischof konnte Bernhard Schräder über 40 Kirchen und Kapellen weihen, die – trotz vieler Widerstände staatlicher Stellen – meist aus eigener Kraft der Gemeinden neu eingerichtet oder erbaut wurden.


Fronleichnam auf dem Schweriner Pfarrhof 1955
Bild Fronleichnam auf dem Schweriner Pfarrhof 1955

Aber nicht nur das Engagement für Seelsorge und Aufbau der Kirche, sondern auch das selbstlose Eintreten für Hilfesuchende und Entrechtete, die sich an Dr. Bernhard Schräder wandten oder für die er sich verantwortlich fühlte, ist ein Kennzeichnen dieses außergewöhnlichen Mannes.. Er protestierte gegen  Plünderungen in der Besatzungszeit und versuchte mit schriftlichen Beschwerden, Enteigneten und Beraubten wieder zu ihrem Eigentum zu verhelfen. Mit dem couragierten Hinweis auf die Not der einfachen Leute gab er 1947 dem Ministerpräsidenten des Landes eine Einladung zu einem Festessen zurück.  

In den ersten Jahren der DDR, als die Stalinisierung der Gesellschaft und die gleichzeitige Konfrontation mit den Kirchen bedrohlich zunahmen, berichtete Schräder an den Osnabrücker Bischof in bestechender Klarheit und Schärfe über die Folgen von Zwangsenteignung, Zwangskollektivierung und Zwangsaussiedlung. Im Brief vom 16. Juni 1952 beschrieb er, wie „die Zonengrenze [...] hermetisch abgesperrt wird und aus der Grenzzone und den weiter zurückliegenden Orten [...] laufend Evakuierungen“ erfolgten. „Über die Gründe der rigorosen und unmenschlichen Maßnahmen sind wiederum nur Vermutungen möglich [...] In den betroffenen Orten herrscht [...] eine große Niedergeschlagenheit und Unsicherheit über das drohende Schicksal [...]“

Abb. 05 – Der Bischöfliche Kommissar predigt in Rostock (1954)
Noch deutlicher formulierte Schräder diesen Tatbestand im Bericht vom 9. März 1953: „Unsere Gemeinden haben durch die Flucht [...] erhebliche Einbußen in ihrem Bestand erlitten. Vielfach sind gerade schon lange ansässige Gemeindemitglieder abgewandert.“ Die Ursachen sah Schräder ganz klar „in der Durchführung der Beschlüsse der Parteikonferenz der SED vom letzten Jahr [...] unter fadenscheinigsten Vorwänden werden die letzten privaten Geschäfte und Unternehmungen liquidiert.“ Bei vielen, die flüchten wollten, läge „eine Art seelischer Zusammenbruch vor.“ Die Versorgung der Bevölkerung hätte sich „noch erheblich verschlechtert“.

Vier Jahre später schrieb Schräder über eine „besonders starke Kirchenaustrittspropaganda“ . Lehrer müssten „bei Strafe der Dienstentlassung Elternbesuche zur Werbung für die Jugendweihe machen“. Vorübergehend hätte  man sogar „Gottesdienste in Altersheimen [...] verboten“. Ãœberall gäbe es eine „Intensivierung der atheistischen Propaganda“ sowie eine „gesteigerte Existenzbedrohung aus weltanschaulichen Gründen.“

Als Bischöflicher Kommissar und auch als Pfarrer stand Schräder in Hirtenbriefen und Predigten den bedrängten Gläubigen zur Seite. Kompromisslos stellte er dabei die christen- und kirchenfeindliche Politik der DDR an den öffentlichen Pranger. Lange schon, bevor er 1958 zum Generalvikar für Mecklenburg ernannt wurde, hatte ihn das Ministeriums für Staatsicherheit im Visier. Schräder, der darum wusste, ging seinen Weg aber unbeirrt weiter.